10 Wahrheiten über dein Nervensystem, die du kennen solltest

Weisst du noch, als wir in der vierten Klasse das erste Mal über das Nervensystem sprachen und lernten, wie es funktioniert? Nicht? Ich auch nicht. Denn das hat nie stattgefunden, dabei ist es etwas, was schon im Kindergarten gelehrt werden müsste.
Wir wissen schon wenig über unseren Körper, dabei ist dieser zumindest sichtbar für uns. Das Nervensystem hingegen ist die unsichtbare, geheime Präsenz in uns, die wir zwar fühlen können, aber oft gar nicht zuzuordnen wissen. Dabei ist unser Nervensystem ist der unsichtbare Dirigent unseres Lebens. Es steuert nicht nur unsere Gedanken und Gefühle, sondern auch, wie sicher wir uns in der Welt fühlen.
Wir merken seine Macht leider oft erst dann, wenn wir Symptome haben: Schlaflosigkeit, chronische Müdigkeit, Ängste, Verdauungsprobleme, diffuse Schmerzen oder einfach das Gefühl, "ausgelaugt" zu sein. Doch all das sind Botschaften des Nervensystems.
Umso wichtiger ist es, zu verstehen, wie es arbeitet. Hier sind 10 Wahrheiten über dein Nervensystem, die dein Verständnis für dich selbst verändern können.
1. "Wach, aber erschöpft"
Das kennst du sicherlich. Du liegst wach, fühlst dich, wie in die Steckdose eingestöpselt und hast keine Ahnung warum, denn du bist eigentlich todmüde. Wenn wir uns gleichzeitig überdreht und müde fühlen, bedeutet das, dass unsere Stresshormone schneller laufen als unsere Energiereserven. Der Körper läuft im Notfallmodus, obwohl der Tank längst leer ist.
2. Freude kann Stress auslösen
Wenn unser Nervensystem "guten Dingen" noch nicht vertraut, kann sogar Freude eine Stressreaktion hervorrufen. Ja. Genau. So verrückt das klingt, aber alles Unbekannte kann erst einmal eine Bedrohung für das Nervensystem darstellen, auch wenn es positiv ist. Deshalb fühlen wir uns nach großen, eigentlich schönen Ereignissen manchmal erschöpft oder erleben gesundheitliche Rückschläge.
3. Dein Körper speichert alte Spannungen
Auch wenn wir uns an manche Ereignisse nicht mehr bewusst erinnern, hält unser Körper die Spannung fest. Das Nervensystem weiss alles. Es ist wie die geheime neuronale Datenbank aller Erlebnisse, die wir jemals hatten und bewahrt Schutzmuster oft lange über das eigentliche Erlebnis hinaus.
4. Überlebensmodus fühlt sich manchmal normal an
Es ist möglich, dauerhaft im Überlebensmodus zu leben, ohne sich bewusst gestresst zu fühlen. Das trifft besonders dann zu, wenn das Nervenystem in "Functional Freeze" eingeloggt ist und dort stecken bleibt. Für viele Menschen wird dieser Zustand zur "Normalität" – obwohl er sie im Hintergrund auslaugt. Ich habe selbst 15 Jahre in diesem Zustand gelebt, und erst seit ich bewusst weiß, wie sich der ventral vagale Zustand anfühlt kenne ich den Unterschied. Ehrlich gesagt bin ich der Ansicht, dass fast die gesamte Menschheit in diesem Zustand lebt, es nur nicht weiß.
5. Geschwindigkeit ist wichtiger als Größe der Veränderung
Unser Nervensystem reagiert stärker auf die Schnelligkeit von Veränderungen als auf deren Ausmaß. Selbst positive Veränderungen fühlen sich unsicher an, wenn sie zu schnell kommen. Das Tempo der Veränderungen kann ein Gefühl der Überforderung hervorrufen, auch wenn das Neue total positiv ist. Langsame Übergänge dagegen beruhigen.
6. Aufregung und Angst teilen dieselbe Chemie
Im ersten Moment ist die Körperchemie bei Aufregung und Angst identisch. Erst unser Gehirn entscheidet – je nach Kontext und Sicherheitsgefühl –, ob wir die Empfindung als positiv oder bedrohlich einordnen. Lass das mal sacken. Das bedeutet, dass der Kopf entscheidet, ob das seichte Nervenflattern vor dem Abheben des Airbus, in dem du sitzt, Angst oder freudige Erregung ist.
7. Dein Gehirn ist schneller als du denkst
Es sagt deinem Körper, wie Herz und Atem reagieren sollen, bevor du es überhaupt bewusst bemerkst. Wenn es dabei auf alte Stressmuster zurückgreift, kann es Fehlsignale geben – wie Schwindel, Beklemmung oder das Gefühl, dass "etwas nicht stimmt". Einmal mehr wird deutlich, unser Verstand weiß eigentlich nicht viel und ist das schwächste Glied in der Kette, auch wenn wir dem rationalen Chef im Oberstübchen so viel Macht zugestehen.
8. Ausatmen ist ein Schlüssel zur Ruhe
Die Länge deiner Ausatmung signalisiert deinem Körper, ob er "hochfahren" oder "runterfahren" soll. Längeres Ausatmen vermittelt Sicherheit innerhalb von Sekunden und stabilisiert Herz- und Atemrhythmen. Wer den längsten (Aus)Atem hat, der ist am coolsten.
9. Vorhersagbarkeit ist wichtiger als Positivität
Unser Nervensystem liebt Routinen. Selbst einfache, vorhersehbare Abläufe beruhigen mehr als ein chaotischer Alltag voller positiver Überraschungen. Deshalb sind regelmäßige Mahlzeiten und Morgenlicht so wichtig für die Regulierung des Nervensystems. Und noch wichtiger: Rituale.
10. Aufmerksamkeit verstärkt Empfindungen
Je mehr wir unsere Symptome beobachten, desto stärker registriert das Gehirn sie. Es verstärkt quasi die Lautstärke des Signals. Eine sanfte Umfokussierung kann helfen, diese Dynamik zu unterbrechen. Eine Lehrstunde für diejenigen unter uns, die den ganzen Tag ihre "Gesundheit" im Blick haben, nach Symptomen Ausschau halten und ständig fühlen, ob der Knubbel jetzt schon schrumpft oder gar noch größer wird. Hypochondrie ist eine Traumafolge und keine Charaktereigenschaft.
✨ Fazit:
Unser Nervensystem ist hochintelligent – aber auch empfindsam. Wenn wir verstehen, wie es arbeitet, können wir beginnen, sanft mit ihm zu kooperieren, statt ständig gegen es anzukämpfen. Heilung geschieht nicht, indem wir "härter an unserer Gesundheit arbeiten", sondern indem wir lernen, Sicherheit, Vorhersagbarkeit und Ruhe in unseren Alltag einzuladen, um die Stimme unseres Nervensystems besser zu hören und seine Sprache verstehen lernen.